Vielleicht wäre es klug, die Reihe Vergessene Werke der Phantastik nicht gerade mit einem Roman von C. F. Ramuz zu eröffnen, war Ramuz doch schließlich, so Rein A. Zondergeld in seinem Lexikon der phantastischen Literatur, einer der bekanntesten Schriftsteller der Schweiz.(1) Und auch heute ist noch etwas von Ramuz‘ Ruhm übrig: Erst 2023 hat der Schweizer Limmat Verlag Ramuz‘ hochaktuelles Buch Sturz in die Sonne in einer Neuauflage veröffentlicht. Noch dazu ist gerade Das große Grauen in den Bergen, das in Deutschland 1926 zum ersten Mal erschien (französische Erstauflage 1926), 2009 als Die große Angst in den Bergen vom Nagel und Kimche Verlag neu aufgelegt worden. Vergessen ist Ramuz also keineswegs.
Die deutsche Erstausgabe von C. F. Ramuz‘ „Das große Grauen in den Bergen“.
Also kein vergessener Autor, kein vergessenes Werk – ein wahrlich gelungener Einstand, mit einem Etikettenschwindel zu beginnen!
Bei den Vergessenen Werken der Phantastik soll es aber gar nicht darum gehen, tatsächlich vergessene, mitunter sogar verschollene Texte der Phantastik zu heben, um sie den geneigten Lesern zu präsentieren. Das wird gelegentlich bestimmt auch passieren, es ist aber, anders als in Robert N. Blochs verdienstvollem Eine Bildergallerie vergessener Phantasten, nicht der eigentliche Zweck dieser Reihe. Vielmehr möchte ich Lektüre-Entdeckungen teilen, die zwar noch gelesen und gelegentlich sogar neu gedruckt werden, auf dem Radar vieler Phantastik-Leser aber noch nicht aufgetaucht sind.
H. P. Lovecraft, Bram Stoker, Thomas Ligotti – das sind Namen, die jeder an der Phantastik Interessierte kennt. Aber wie ist es zum Beispiel mit den vielen Autoren, die nur ein oder zwei Werke der Phantastik schrieben, sich ansonsten literarisch aber in ganz anderen Gefilden bewegten? Gerade diese Autoren und Werke möchte ich in den Vergessenen Werken der Phantastik vorstellen, und unter dieser Maßgabe ist C. F. Ramuz dann wohl doch ein ganz gelungener Einstieg.
In Ramuz‘ Das große Grauen in den Bergen ist die Entscheidung, eine seit zwanzig Jahren ungenutzte Alm wieder beweiden zu lassen, der Untergang eines ganzen Dorfes.
Die jungen Dorfbewohner sehen es nicht mehr ein, gutes Gras umkommen zu lassen, und beschließen, das seit zwanzig Jahren auf der Alm liegende Tabu zu brechen. Der neue Pächter versammelt eine Gruppe von Außenseitern und Randgestalten um sich, unter ihnen auch ein alter Mann, der bei dem Unglück vor zwanzig Jahren auf der Alm war und als einziger dort überlebt hat.
Nachdem sie sich auf der Alm eingerichtet haben, lässt das erste, noch recht kleine Unglück nicht lange auf sich warten. Kurz darauf bricht die Maul-und-Klauen-Seuche aus: Die Almbewohner sind von der Außenwelt abgeschnitten. Trotzdem hören sie nachts Schritte auf dem Dach ihrer Hütte, und irgendjemand rüttelt an der glücklicherweise versperrten Tür.
Das Vieh verendet an der Krankheit, ein Tier nach dem anderen. Zugleich werden die Almbewohner immer seltsamer – möglicherweise aufgrund der Isolation und der existenziellen Bedrohung durch die Seuche, möglicherweise aber auch, weil etwas Böses auf der Alm umgeht. Einige von ihnen planen die Flucht, andere begraben stoisch das tote Vieh.
Schließlich kommt es zur Katastrophe: Die Reste der Herde und die Arbeiter stürzen auf die Stadt zu und werden von den Wachposten, die eine Ansteckung mit der Seuche verhindern sollen, erschossen. Kurz darauf löscht eine Flut, die aus einem Gletscher hervorbricht, das Dorf aus.
Ramuz beschreibt die Berglandschaft, in der das Grauen sich ereignet, in einer berückenden Sprache, die so unmittelbar ist, dass es schwierig ist, sich dem Roman zu entziehen. Es wird auf komplizierte Satzkonstruktionen verzichtet, und gerade dadurch gewinnt der Text eine große Überzeugungskraft, die jeden Stein, über den die Almbewohner stolpern, jedes gestorbene Tier, das verscharrt wird, spürbar macht. Bei allem Furchtbaren, das passiert, sind die Naturbeschreibungen ein starker Kontrast, der verdeutlicht, wie klein der Mensch inmitten der riesigen Berge ist.
Ob das, was passiert, wirklich Folge eines wiedererweckten Fluches ist oder ob die Dorfbewohner wie die Menschen auf der Alm einfach großes Pech haben, dem sie einen übernatürlichen Ursprung zuschreiben, bleibt offen. Ramuz bewegt sich damit in genau der Region, die der Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov in seiner Einführung in die fantastische Literatur als ‚fantastisch‘ bezeichnet: Der Text lässt offen, ob die Geschehnisse eine übernatürliche oder eine ganz profane Erklärung haben.(2)
Gerade diese Ungewissheit macht den Reiz des Phantastischen in C. F. Ramuz‘ Das große Grauen in den Bergen aus, denn das mögliche Böse, das auf der Alm haust, wird dadurch viel unheimlicher, als wenn ihm irgendeine Form von Erklärung zuteil würde. Die Lektüre dieses etwas in Vergessenheit geratenen Romans lohnt sich für die Freunde anspruchsvoller Phantastik, die aus der Ungewissheit Freude ziehen, und für jeden, der wunderschöne Naturbeschreibungen liebt.
(1) Vgl. Zondergeld, Rein A.: Ramuz, Charles Ferdinand. In: Ders./Wiedenstried, Holger E.: Lexikon der phantastischen Literatur. Stuttgart/Wien/Bern 1998, S. 284-285, hier S. 284.
(2) Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Berlin 2013, S. 34.